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Caspar Sessler

RATHAUS KORBACH KREISLAUFGERECHTES BAUEN

Wie können wir unseren Bestand bestmöglich nutzen, wenn ein Rückbau unumgänglich ist? Das Modellprojekt Rathaus Korbach beantwortet diese Frage im Sinne des Urban-Mining-Konzeptes, in dem ein abgerissener Anbau als „Rohstoffquelle“ für zwei neue Verwaltungsgebäude diente. Die beiden Neubauten sind obendrein so konstruiert, dass sich die eingesetzten Materialien beispielsweise im Falle späterer Revitalisierungen leicht zurückgewinnen lassen. Gemeinsam mit dem sanierten historischen Rathaus bilden sie ein identitätsstiftendes Ensemble, das baukulturellen Anspruch und eine ressourcenschonende Umsetzung vereint.  

Caspar Sessler

Nachhaltige Stadtreparatur

Mit Arkaden, Treppengiebeln und markantem Turm prägt das mittelalterliche Rathaus die Ortsmitte von Korbach: 1377 errichtet, ist es bis heute nicht nur ein wichtiger Anlaufpunkt für knapp 24.000 Bürgerinnen und Bürger, sondern auch Wahrzeichen der hessischen Kreis- und Handelsstadt. Weniger identifikationsbehaftet war hingegen eine Rathauserweiterung aus den 1970er-Jahren, die sich aufgrund der damals zeittypischen Beton-Flachbauweise nie so recht in ihr historisches Umfeld einfügen wollte. Als der Anbau nach vier Dekaden der Nutzung erhebliche bauliche, funktionale und energetische Mängel aufwies und nicht der Prüfung einer Weiter- oder Umnutzung standhielt, reifte der Gedanke, den betagten Bestand abzureißen. Ein neu gestalteter Rathauskomplex sollte den Ortskern aufwerten und sich obendrein durch eine ressourcenschonende Bauweise auszeichnen. Unter dieser Zielsetzung lobte die Stadt 2017 einen europaweiten Wettbewerb aus, in dem sich der Entwurf der ARGE agn – heimspiel architekten durchsetzte.

Planung und Ausführung erfolgten daraufhin in drei Teilprojekten: Zunächst galt es, den Bestand von 1377 im Rahmen einer denkmalgerechten Sanierung barrierefrei zu erschließen. So wurde etwa rückseitig ein schwellenloser Eingang geschaffen und ein gläserner Aufzug nachgerüstet. Anschließend entstanden ein neues Haupt- und ein weiteres Nebengebäude, die sich maßstabsgetreu an die historische Substanz anlehnen und diese gleichzeitig neu interpretieren. In moderner Giebelhaus-Architektur schreiben die beiden Neubauten die Dachlandschaft des identitätsstiftenden, mittelalterlichen Stadtgrundrisses fort und begreifen sich damit praktisch als Gegenthese zum abgerissenen 70er-Jahre-Bau. Anders sie das alte Rathaus frei, damit es in alle Richtungen wirken kann, und bilden zusammen mit dem Rathausplatz und dem Bürgerforum einen Kommunikationsraum, der die städtebaulichen Qualitäten der Ortsmitte stärkt.

»Anhand der einzelnen Bauteile ist erkennbar, dass wir den Fokus in der Detaillierung so gelegt haben, dass die Materialien wieder sortenrein getrennt und im Wertstoffkreislauf wiederverwertet werden können.«

Marc Matzken, heimspielarchitekten

ARGE agn - heimspiel architekten

Wertstofflager für künftige Generationen

Das Ziel einer ressourcenschonenden Umsetzung wurde in Korbach anhand des Urban-Mining-Ansatzes realisiert – eines Konzeptes des kreislaufgerechten Bauens, das städtische Architekturen und Infrastrukturen als Rohstofflager für künftige Bauten begreift. In einem beispielhaften Prozess gelang es, mineralische Materialien aus dem abgebrochenen Bestand in die neuen Rathausteile zu überführen. Nach dem Abriss wurden sie von weiteren Überresten getrennt, in einer ortsnahen Brechanlage aufbereitet und zu Rezyklat verarbeitet. Letzteres diente dann der Herstellung Recycling-Beton, der in den Fassadenelementen und tragenden Stahlbetonkonstruktionen Verwendung fand.

Damit aber nicht genug: Denn die Konstruktion berücksichtigt auch bereits das Ende des nächsten Lebenszyklus beziehungsweise die Nachnutzung der eingesetzten Materialien zu einem späteren Zeitpunkt. Beispielsweise verzichteten die Architekten auf Putzoberflächen und verklebte Abdichtungen. Stattdessen verwendeten sie recyclingfähigen Sichtbeton sowie Bodenplatten und erdberührende Außenwände aus wasserundurchlässigem Beton. Alle Materialien sind so gefügt, dass sie sich im Falle des Rückbaus sortenrein trennen lassen und künftigen Generationen als leicht verfügbares Wertstofflager zur Verfügung stehen. Erstmals lotet das Modellprojekt auf diese Weise die Potenziale des Urban Mining für Objekte in Massivbauweise aus – möglich auch deshalb, weil mit dem „Urban Mining Index“ ein innovatives Planungstool für zirkuläres Bauen zum Einsatz kam (siehe Folgeseite). Gefördert wurde das Urban-Mining- Konzept durch öffentliche Mittel des Bundeslandes Hessen mit dem Ziel, aus den gewonnenen Erkenntnissen einen Leitfaden für ressourcenschonendes Bauen zu erstellen.

Caspar Sessler

Moderne Giebelhaus-Architektur

In moderner Giebelhaus-Architektur fügen sich die beiden neuen Rathausgebäude in ihr historisches Umfeld ein. Das Magistratszimmer (hier im Bild) und der Bürgermeisterbereich werden über das zentrale Bürgerforum erschlossen. Herzstück ist ein großer, multifunktional nutzbarer Stadtverordnetensaal.

Barrierefrei und energieeffizient

Sektionen mit großem Besucheraufkommen wie das Bürgerbüro, das Ordnungsamt und die Tourismusinformation befinden sich in den Erdgeschosslagen, sodass sie gut erreicht werden können, während prestigeträchtige Bereiche wie das Trauzimmer und das Büro des Bürgermeisters weiterhin im historischen Rathaus untergebracht sind. Die energieeffizienten Neubauten verfügen zudem über ein Blockheizkraftwerk. Dieses versorgt auch ein angrenzendes saniertes Fachwerkgebäude sowie die gegenüberliegende Stadtbücherei und das nahe gelegene Wolfgang-Bonhage-Museum mit Energie.

Caspar Sessler

Multifunktional

Die Besprechungszimmer werden von allen Abteilungen des Rathauses genutzt und verfügen über eine moderne Ausstattung.

Caspar Sessler

Finalist des Deutschen Nachhaltigkeitspreises

Die zukunftsweisende Bedeutung des Projektes untermauert die Nominierung für den Deutschen Nachhaltigkeitspreis 2022. In dem Wettbewerb, in dem jährlich die Pioniere aus 100 verschiedenen Branchen prämiert werden, schaffte es das Rathaus Korbach in der Kategorie „Architektur“ bis ins Finale. Die Jury begründete treffend: „Der 2022 fertiggestellte Siegerentwurf der ARGE agn – heimspiel architekten verbindet baukulturellen Anspruch mit dem Ziel, Ressourcen zu schonen. Er formt die Innenstadt neu und wertet diese auf.“

Werner Huthmacher

Cradle to Cradle® zertifiziert Eurosmart Waschtischarmatur in S-Size

Das Rathaus Korbach entschied sich bei der Ausstattung seiner behindertengerechten Sanitärräume für eine Lösung, die höchsten Nachhaltigkeitsansprüchen gerecht wird. Die Eurosmart Waschtischarmatur in S-Size ist nicht nur nach dem Cradle to Cradle®-Prinzip zertifiziert und damit darauf ausgerichtet, dass ihre Bestandteile am Ende des Lebenszyklus wiederverwendet werden können. Sie ist auch noch besonders wasser- und energiesparend.

Daria Yákina

Urban Mining Index

Im Interview:
Prof. Dr. Anja Rosen, Honorarprofessorin an der Bergischen Universität Wuppertal und Partnerin C5 GmbH, hat das Urban-Mining-Konzept für das Rathaus Korbach entwickelt.

 

»ZEIGEN, WAS MÖGLICH IST«

Sie haben mit dem Urban Mining Index (UMI) ein Planungsinstrument entwickelt, das zirkuläres Bauen messbar macht. Welche Idee steckt dahinter?

Als langjährige DGNB-Auditorin habe ich festgestellt, dass Ökobilanzierungen von Gebäuden oft nicht ausreichend abbilden, wie viele Baumaterialien aus dem Kreislauf kommen und wie viele später wieder dorthin zurückgehen. Dabei nutzen wir gerade in Deutschland immer noch sehr wenig Sekundärrohstoffe, und entsprechende Indikatoren könnten einen Bewusstseinswandel bewirken. Ziel war es deshalb, Informationen auf Bauteil- und Gebäudeebene in einem vergleichbaren Messwert beziehungsweise in einer aggregierten Zirkularitätsrate zu bündeln. Das Ergebnis ist der Urban Mining Index – ein Planungstool, mit dem Architekten und Bauschaffende den Einsatz kreislaufgerechter Materialien optimieren können.

Im Modellprojekt Rathaus Korbach kam der UMI erstmals praktisch zum Einsatz. Wie können wir uns das konkret vorstellen?

Es gab bereits den Entwurf der ARGE agn – heimspiel architekten, als die Stadt Korbach anregte, den rückgebauten Bestand stofflich für die beiden Neubauten zu nutzen. Mit Probenahmen und Masseberechnungen haben wir dann vor dem Abbruch geprüft, ob die Bausubstanz geeignet ist und welcher Anteil sich voraussichtlich daraus zurückgewinnen lässt. Das ist aber nur ein Teilaspekt: Denn beim Urban Mining geht es auch darum, Gebäude heute schon so zu konzipieren, dass sie künftigen Generationen als leicht verfügbare Rohstofflager dienen. Zunächst haben wir uns deshalb alle Bauteile detailliert vorgeknöpft und geschaut, wie man die Aufgabe üblicherweise lösen würde. Anschließend haben wir eine optimierte Variante erarbeitet, die etwa auf Abklebungen oder Verbundstoffe zugunsten von demontier- und recycelbaren Materialien verzichtet. Mit dem UMI habe ich schließlich die Kreislaufpotenziale beider Varianten berechnet und gegenübergestellt.

Für die Neubauten haben Sie eine Zirkularitätsrate von 42 % errechnet. Wie beurteilen Sie das?

Das ist schon sehr gut für einen Stahlbetonmassivbau – auch vor dem Hintergrund, dass wir mit der herkömmlichen Variante nur bei circa 20 Prozent gelegen hätten. Das Ergebnis zeigt nämlich, dass ein beträchtlicher Teil der eingesetzten Materialien später in unterschiedlichen Qualitäten wieder- oder weiterverwertet werden kann. Es offenbart allerdings auch, wie viel Luft noch nach oben ist. Wollen wir bis 2050 eine Circular Economy werden, müssen wir irgendwann bei 100 Prozent liegen. Besonders im Massivbau ist das aber schwer, weil der chemische Prozess der Betonerhärtung oder das Brennen von Mauerstein anders als etwa bei Lehmbaustoffen nicht rückgängig zu machen ist. Wir können die gebrochene Gesteinskörnung lediglich als Rezyklat einsetzen – und das nur begrenzt.

Beim Bestandsbau in Korbach gab es zudem das Problem, dass Holz- und Styroporreste mit der Betonkonstruktion verbunden waren.

Richtig. Wir haben gehofft, dass wir für die Herstellung des kompletten Tragwerks aus R-Beton mit den Rezyklaten aus dem abgerissenen Anbau auskommen. Das hat leider nicht funktioniert, denn dafür hätten wir z. B. aus der Rippendecke des ehemaligen Ratssaals die verlorene Schalung händisch herauspicken müssen, was viel zu aufwendig gewesen wäre. Die Gebäude waren in den 70er-Jahren halt nicht als Wertstofflager geplant. Genau das wollen Sie nun anders machen.

Aber braucht es dafür nicht auch verfügbare Daten?

Wir überführen den Urban Mining Index gerade in eine professionelle Software, die wir hoffentlich bis Ende 2023 fertigstellen. Die möchten wir dann in andere Software-Instrumente integrieren, um mit einer einzigen Gebäudemodellierung mehrere Parameter wie den Energiebedarf, die Ökobilanz und den UMI auswerten zu können. Ebenso ist eine Schnittstelle mit dem DGNB-Gebäuderessourcenpass angedacht.

Welche Potenziale sehen Sie im Urban Mining, wenn alle Stricke optimal zusammenlaufen?

Ich sehe große Potenziale für den Ressourcenschutz. Wichtig ist dabei, dass man die Potenziale auch für den Klimaschutz erschließt – vor allem mit Blick auf den Massivbau. Hier sind die Forschung und die Hersteller gefragt, damit es uns irgendwann gelingt, auch den Zement zu recyceln. Denn in Korbach hat der optimierte Materialfußabdruck beispielsweise nur zu einem geringfügig verbesserten CO²-Fußabdruck geführt. Wir brauchen also innovative Produkte und Wiederaufbereitungsverfahren für höhere Recyclingquoten, die gleichzeitig emissionsarm sind.